Hallo Nadine,
ich hänge jetzt schon seit ein paar Tagen an diesem Thema, möchte Dir antworten und bekomme meine Gedanken dazu nicht so sortiert, dass Du am Ende etwas verständliches zu Lesen bekommst
Ich bin ebenfalls Angehörige und habe das zweifelhafte Vergnügen gleich durch eine ganze Sammlung von Wesensveränderungen meines Mannes "gespült" worden zu sein. Es sind jetzt 2 Jahre seit seinem Schlaganfall vergangen und was sein Wesen anging, da war wenig statisch.
Tja, und von den Ärzten wird man damit alleine gelassen. Gerne wird es dann auf Depressionen geschoben. Ich wage aber inzwischen zu behaupten, dass das mit rein spielen kann, aber m.E. nicht ausschließlich.
Warum ich diese These in den Raum stelle? Weil ich es erlebt habe und immer noch erlebe. Mein Mann hatte sich anfangs sehr verändert. Ein humorvoller, liebevoller, vielseitig interessierte und empathischer Mensch mit großen sozialen Kompetenzen wurden zum fiesen Egoisten der sich zu nichts aufraffen konnte und an nichts Interesse hatte. (das mal als Kurzfassung, da gab es sicherlich ganz viele Facetten und dazwischen war er auch temporär der Mann, den ich kannte)
Ein wenig hat sein heftiger epileptischer Anfall sein Wesen wieder zum Positiven verändert. Aber stur, desinteressiert und wenig empathisch, das blieb.
Mich hat das sehr verletzt und da mein Mann der wichtigste Mensch in meinem Leben war und ist, hat mich das richtig runter gezogen.
Irgendwann hatten wir wieder Streit weil er sich hängen lies und da wurde er mal wieder fies und nannte mich hässlich. Da er Aphasiker ist habe ich da mehrfach nachgehakt bevor ich sicher sein konnte, dass er weiss was er gesagt hat und dass er es bewusst geäussert hat. Und das war 1x zu viel an Fiesheit. Ich habe damals angekündigt und auch durchgezogen, dass er ab diesem Zeitpunkt tun und lassen kann was er möchte. Er erhält von mir Mahlzeiten, Medikamente, saubere Wäsche und ich erinnere an seine Termine ... mehr aber auch nicht. Es gab von mir keine Ansprache, keine Zuwendung.. nichts. Ich habe das fast 3 Tage durchziehen müssen bis er sich - tatsächlich dann sehr zerknirscht - bei mir entschuldigt hat (Entschuldigen war noch nie seine Stärke). Wir haben dann noch mal lange darüber gesprochen. Seine Fiesheit war wohl ein Versuch sich durchzusetzen als ihm kein anderes Mittel mehr eingefallen ist und er fand das auch gar nicht sooo schlimm. Erst als ich ihm mit Gegenbeispielen den Spiegel vorgehalten habe (also versucht habe ihn das nachfühlen zu lassen), dämmerte es ihm was er mit diesem Wort angerichtet hat. Ich habe daraus gelernt, dass mein Mann tatsächlich manchmal Hilfestellung beim Einfühlen benötigt. Ich beobachte aber auch, dass er darin immer besser wird seitdem ich ihm versuche begreiflich zu machen was ich fühle und warum.
Es ist mühsam - eben weil mein Mann Aphasiker ist - aber auch, weil Gefühle beschreiben, die Kettenreaktionen die entstehen.. das ist gar nicht so leicht. Aber, bei meinem Mann bewegt das etwas.
Was ich sagen möchte ist, dass Gefühle auch wieder gelernt werden können und soziales Verhalten auch. Und, dass alles liebe, freundliche Zureden nichts brachte. Erst als ich mich auf die Hinterfüsse stellte und meinem Mann klar wurde "bis hierher und nicht weiter" war er bereit sich geistig zu bewegen.
Deshalb vertrete ich den Standpunkt, dass man niemandem einen Gefallen tut wenn man denkt "er/sie kann doch nichts dafür". Das können Teenager auch nicht und man setzt sich dennoch mit ihnen auseinander und versucht die Entwicklung ihres Gehirns positiv zu begleiten (übrigens durchleben Schlaganfallpatienten, wie Teenager auch, eine Neustrukturierung des Gehirns - aber das nur am Rande bemerkt).
Und auch bei Antriebsschwäche würde ich nicht so ohne Weiteres aufgeben. Mein Mann hat sie heute noch - so lange er sich alleine beschäftigen sollte. In Gesellschaft ist er jedoch sehr interessiert und gerne aktiv. Ein wenig erinnert mich das an Kinder und genau so versuche ich damit umzugehen. Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass ich meinen Mann nicht respektieren würde. Im Gegenteil!
Was Deine Schuldgefühle angeht... die hatte ich auch. Ich habe mich für mich selbst geschämt. Inzwischen sage ich aber, auch wir Angehörige haben ein Recht auf ein Leben ohne Frust und wir haben ein Recht darauf für das was wir tun auch Wert geschätzt zu werden. Und ja, wir haben auch ein Recht darauf das einzufordern.
Ganz ernsthaft, hätte ich diesen Standpunkt nicht für mich gefunden, mein Mann und ich hätten uns früher oder später trennen müssen. Das hätte ich nicht bis ans Lebensende durchgehalten und ertragen. Insofern tue ich sowohl meinem Mann als auch mir einen größeren Gefallen wenn ich ihn ernst nehme, mit seinem Verhalten konfrontiere und mich mit ihm auseinander setze. Das ist emotional anstrengend - für beide Seiten - und die positive Entwicklung wird immer wieder von Rückschritten unterbrochen. Aber es bringt uns auch wieder einander näher.
Wie das enden wird - ich kann es Dir nicht sagen. Aber alles ist besser als schicksalsergeben sich zu sagen "Er/Sie kann nicht anders, das ist das Krankheitsbild und daran ist nichts änderbar". Nein, dieses Mantra habe ich anfangs versucht mir vorzusagen und das hat mich eher noch mehr niedergedrückt. Der Gedanke, dass dieser Zustand unveränderlich sein soll, dass hat mich wirklich nicht ruhiger gemacht. Im Gegenteil.
Was ich übrigens ebenfalls versuche ist, meinem Mann Glücksgefühle zu schenken. Ich habe den Eindruck, dass ihn das immer ein paar Tage trägt und er mehr Eigenantrieb hat.
Das hier könnte in diesem Zusammenhang auch noch interessant sein:
Dopamin und Dopaminmangel: Wie steuert man das Glückshormon? - Foodspring Magazine
Was Christopher geschrieben hat, nämlich dass Medikamente, Alter (und ich ergänze: sogar Infekte) und Ängste das Wesen Deiner Mutter beeinflussen können, das ist ebenfalls richtig. Ich erlebe das seit einigen Jahren bei meiner Mutter. Wobei ich da auch sagen muss, dass sich vieles verstärkt hat und nichts Neues hinzu gekommen ist. Aber auch hier gilt, als ich bei meiner Mutter die Grenze gezogen habe (und dazu musste ich die Haltung einnehmen können, dass es ihr Leben ist mit dem sie spielt und ich nicht verantwortlich dafür bin sie jedes Mal aus der Scheixxe raus zu holen) und sie auch kapiert hat, dass es so ist, seitdem geht sie wieder mit mir pfleglich um. Davor war ich für sie der letzte Dreck. Und nein, ich übertreibe nicht. Vor 2Jahren hat mir meine Mutter noch Ohrfeigen angedroht (der Arm war schon erhoben) und ich war die blöde Kuh und die dumme Sau. Ich schreibe das, um zu verdeutlichen, dass es bei uns schon zur Sache ging. Sie hatte sich mit ihrer Sturheit ins Delir abgeschossen, war mehrere Monate geistig nicht klar (sie hatte Entführungsphantasien, hat auch die Polizei angerufen) und sie stand knapp davor ihr Bein zu verlieren.
Sie war auch der Meinung, dass ich 24 Std am Tag zur Verfügung zu stehen habe. Jederzeit auf Abruf. Dass mein Mann ebenfalls Unterstützung benötigt (und in manchen Phasen mehr als meine Mutter), das wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen. Im Gegenteil, sie hat mir hysterische Eifersuchtsdramen geliefert und ich wurde wüst beschimpft weil "man" für seine Mutter da zu sein hat. Immer, jederzeit - sie habe das schließlich auch für mich getan. Bei Licht betrachtet war sie nicht einmal für mich im Säuglingsalter derartig angehängt wie sie sich das für mich vorgestellt hatte.
Danach, als sie endlich wieder einigermaßen auf den Beinen war, hat sie dann in der Nachbarschaft und beim Pflegedienst derartig über mich hergezogen, dass ich dann die Grenze zog, nur noch einkaufen ging und Wäsche machte und ansonsten kein privates Wort mehr gefallen ist. Nach einiger Zeit sass dann die Lektion. Jetzt ist der Umgang in Ordnung - ich werde mich aber nie wieder so weit annähern, dass sie das Gefühl haben kann, mich wieder im Griff zu haben.
Bei Ihr haben übrigens in den letzten 2 Jahren 3x im Nachhinein nachvollziehbar starke Infekte im Körper (lokalisiert konnten sie nicht werden, das Blutbild ergab das) für diese Wahnvorstellungen (Entführungsphantasien) geführt. Sobald der Infekt weg war, war meine Mutter wieder ganz klar und war auch in der Lage zu erkennen, dass das etwas nicht gestimmt haben konnte.
Auch hier gilt also... meine Mutter war trotz Medikamenten, Alter und Infekten in der Lage zu lernen. Warum sollte Deine nicht auch dazu in der Lage sein. Allerdings wird sie das nicht freiwillig tun so lange das bei euch funktioniert und Du springst.
Lese ich mich lieblos?
Möglicher Weise ...
Aber noch liebloser wäre, sie sich selbst zu überlassen.
Und wenn das mit meinen Beiden so weiter gegangen wäre (das lief damals zeitgleich), dann wäre ich früher oder später reif für die Psychatrie gewesen.
Ergo ist Eigenschutz auch Fremdnutzen.
So, das war jetzt mal wieder ein typischer Amsel-Roman. Das Thema kann man aber nicht kurz abhandeln. Es hat zuviele Facetten. Du wirst für Dich eine eigene Lösung finden müssen.
Ach so.. was ich Dir auch empfehlen kann ist, für Dich eine Psychologische Unterstützung zu suchen. Einiges von dem was ich hier umgesetzt habe wurde angestossen durch Fragen die mir eine Psychologin stellte die ich eine Angehörigengruppe kennengelernt habe. Also noch nicht einmal Therapie, aber die richtige Frage und damit Gedankenanstoss zum richtigen Zeitpunkt hat mich aus dem Rad ein Stück weit raus gebracht.
Ich hoffe, ich konnte ebenfalls zum Nachdenken anregen - ich kanns nur leider nicht so kurz und prägnant .
Halt die Ohren steif und denk' daran, auch Du hast Recht auf Leben - auf DEIN Leben!