Hallo Christine,
mein Mann möchte bis heute, fast 5 Jahre nach dem Schlaganfall, auch nicht selbständig werden. Außer dem was Fortbewegung , Körperpflege und An/Auskleiden betrifft. Wobei er auf lange Strecken gehen können auch keinen Wert legt und ohne mein penetrantes Intervenieren würde ich heute noch die Nägel der linken Hand kürzen und nicht er. Aber er kann das inzwischen - weil ich nicht kooperiert habe und grundsätzlich darauf bestand, dass er es selbst versucht.
Mein Mann wäre auch deutlich weiter, wenn er wenigstens ansatzweise noch den Ehrgeiz, die Offenheit und die Neugierde hätte die ihn früher ausgezeichnet haben.
Ich habe anfangs den Fehler gemacht ihm zu viel abzunehmen. Ich kam mir auch regelmässig wie ein Schwein vor, wenn ich ihn sich abmühen lies. Im Rückblick kann ich nur sagen: hätte ich das nur grundsätzlich gemacht. Meine Fürsorge am Anfang bezahle ich jetzt damit, dass ich zu Hause einen Pascha sitzen habe dem ich das jetzt wieder mit (für mich) unschönen Maßnahmen abtrainieren muss. Ja muss, denn ganz ehrlich, mich macht es inzwischen aggressiv, dass mein Mann sich an den Esstisch setzt und wartet bis er bedient wird, denn er ist sowohl körperlich als auch geistig in der Lage den Tisch zu decken.
Ich kann Dir nur raten es gar nicht erst soweit kommen zu lassen und gezielt Unterstützungen zu verweigern wenn Du denkst, dass er es auch alleine schaffen könnte. Gleichgültig wie gut das am Anfang laufen mag.... jeder Versuch lässt ihn besser werden.
Nehmen wir das Beispiel mit den Fingernägeln. Ich habe meinem Mann den Nagelclipser in die Hand gedrückt weil ich ihn damit dazu nötigen konnte seine Finger der rechten Hand einzusetzen. Ich habe ihm ein Handtuch auf den Tisch gelegt, den Clipser in die Hand gedrückt und gesagt: probier es aus. Es muss nicht glatt werden. Kürzen reicht aus. Ich glätte Dir danach die Unebenheiten. Er fand das gar nicht gut .. und was hat er gejammert, wie mies habe ich mich gefühlt und ja, die Nägel sahen anfangs angefressen aus ... aber heute braucht mein Mann diesbezüglich keine Unterstützung mehr und das obwohl die rechte Hand leider nach wie vor untrainiert ist weil er sie ausblendet (wenn er sich aber darauf konzentrieren würde, dann ginge da einiges mehr) - und stolz ist er heute inzwischen auch darauf, dass er es kann.
Im Moment bin ich beim Essen mit Messer und Gabel unkooperativ. Mein Mann übt das zu Hause nicht. Alles was nur irgendwie geht wird nur mit der linken Hand gegessen (er ist damit aber auch sehr geschickt). Früher habe ich ihm im Lokal das Fleisch oder die Pizza geschnitten, heute verweigere ich das und zucke auch nicht, wenn ihm dann irgendwann aufgrund nachlassender Kraft das Messer aus der Hand auf den Boden knallt. Die Blicke des Umfelds muss man halt aushalten. Mal schauen bis wann er verstanden hat, dass es hilft wenn man das täglich zu Hause umsetzt. Ich bin jedenfalls das Erinnern, das Mahnen, dass Anregen (notfalls im Sekundentakt) leid.
Ich bedauere heute früher diesbezüglich nicht konsequenter und, ja, auch härter gewesen zu sein. Ich habe uns damit einen Bärendienst erwiesen.
Vor 2 Wochen habe ich ihm die Aufgabe übergeben sein morgendliches Müsli selbst zu richten. Für ihn ist das eine kognitive Leistung weil er zählen und sich die Zutaten + die Mengen merken muss. (das ist kein Fertigmüsli) und Trockenfrüchte muss er auch noch schneiden ... und umrühren.. für ihn eine Herausforderung. Oh was hat er gejammert - ganz dramatisch. "Kann ich nicht" + "bitte nein". Ich habe ihn anfangs unterstützt, aber eines Morgens hat er mich damit überrascht, dass er bereits am Rühren war als ich die Küche betrat. Ja, heute ist er stolz darauf.
Lange Rede, kurzer Sinn: ich rate zur Gnadenlosigkeit. Alles andere stehst Du auf Dauer zu Hause nicht durch. Es sei denn, Du kannst es Dir finanziell leisten Dienstleister an allen Ecken und Enden zu beauftragen. ich weiß wovon ich rede. Ich pflege seit 2020 alleine, habe ein Haus, bin berufstätig, hatte dazwischen auch noch eine pflegebedürftige Mutter zu unterstützen (nein, körperliche Pflege nicht) und jede Menge Ärger mit der Krankenkasse. Dazwischen gab es dann noch 2 ernste Erkrankungen meines Mannes oben drauf. Das ist kein Leben, man funktioniert nur noch. Und ich kann Dir sicher sagen, dass ich den Zustand der ersten Jahre auf Dauer nicht durchgehalten hätte. Inzwischen wird es bei uns ein klein wenig besser ... ich stehe aber dennoch nach wie vor gefühlt unter Dauerstrom.
Irgendwann habe ich meinem Mann ganz klar und deutlich gesagt: wenn Du Dich nicht am Alltag beteiligst und eigenständiger trainierst, dann bleibt mir leider keine andere Möglichkeit als Dich tagsüber von der Tagespflege betreuen zu lassen. Mir wir wird das sonst zu viel. Wir haben es früher immer so gehalten, dass jeder die Aufgaben übernimmt die er kann. Ich habe nicht vor bis zum Ende meiner oder Deiner Tage Deine Dienstmagd und Pflegerin zu spielen. Denn, sind wir mal realistisch.. es geht doch nicht nur um die Körperpflege, Du wirst den kompletten Haushalt erledigen müssen. Inkl. Papierkram, Arztbesuche, Therapiebegleitung und je nachdem bist Du auch noch Chauffeuse. Was bleibt denn da noch an Freizeit für Dich? Wo eine ruhige Minute? Wo Zeit für einen entspannten Abend?
Ich jedenfalls leben im Grunde das Leben von 2 Menschen ohne aber deren Freude zu haben. Versuche das noch in der Klinik anzugehen - oder siehst Du Dich in der Lage zu Hause das komplette Pflegepersonal rund um die Uhr ersetzen zu können?
Du fragst wie Du es schaffen kannst umzudenken. Nun.. bei meinem Mann helfen leider nur deutliche und energische Worte. Ich erkläre ihm die Konsequenzen.
Frag' Deinen Mann was er besser findet: Tagespflege oder an der Selbstständigkeit arbeiten damit er auch für ein paar Std. zu Hause alleine sein kann. Oder glaubt er ernsthaft, dass Du Dich 24 Std/Tag. bei ihm aufhalten kannst?