#21

Christine

Koblenz, Deutschland

Christine, da warst Du ja auch heftig unterwegs was der ganze notwendige Zeitaufwand erforderte.

 

In der Frühreha hat Bärbel ihre Spastik erworben und der Frontallappen und später die Vendrikel, liefen voll Gehirnwasser, so das sie im Wachkoma ähnlichen Zustand verharrte und nur wenig ansprechbar war über mehrere Wochen.

Das wurde mir im Haus auch gesagt das sie mich auch anschreien wird, ungerecht werden wird und solche Verhaltensweisen.
Bisher sind das nur immer kleine techtelmechtel die wir dann austragen.

Ihr seid da schon weiter als wir, da kann ich Dir schlecht Beistand geben. Meine Bärbel wird wohl mindestens bis Ende dieses Jahr, vielleicht auch noch einige Zeit im nächsten Jahr dort verbleiben müssen.

Ist das bei Ben eine Form von Wesensänderung oder ist er dann an diesen Zeitpunkten "nur" schlecht gelaunt und vielleicht mit sich selbst überfordert?

 Ihr habt wirklich viel durchgemacht – es ist so toll, dass Bärbel aus dem Wachkoma herausgefunden hat! Vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht, dass sie noch lange in der Einrichtung bleiben kann. Dann ist sie wesentlich stabiler und selbständiger, wenn sie nach Hause kommt. Mein größter Wunsch im Moment wäre, dass Ben noch mehr Zeit in der Reha hat, damit er noch ein paar Sachen lernen kann. Am meisten Sorge macht es mir, dass er nachts noch sehr oft Hilfe braucht. Das könnte ich – realistisch betrachtet – zuhause allein kaum schaffen.

Eine Wesensveränderung ist es, glaube ich, nicht, ich sehe es eher als normale Reaktion auf die Umstände, mit denen er konfrontiert ist. Ich würde in seiner Situation wahrscheinlich noch viel wütender reagieren. Wenn man plötzlich dermaßen aus seinem Leben gerissen wurde, ohne Hilfe nichts mehr kann, den eigenen Körper nicht mehr beherrscht ... Gestern bezeichnete er die Frühreha als "Station der geplatzten Lebensträume". Das hat mich ziemlich erschüttert, weil es deutlich zeigt, wie er selbst seine Situation wahrnimmt.

#22

Le Chuk

Bln, Deutschland

Hallo Christine
Lange nichts mehr von Euch gelesen.
Wie geht es Deiner besseren hälfte und nicht zu vergessen, wie geht es Dir?
Muß doch in der Zwischenzeit schon wieder sehr viel passiert sein. (?)

 

#23

Christine

Koblenz, Deutschland

Hallo Le Chuk,

danke, dass Du nachfragst. Ich habe lange nicht geschrieben, weil wieder so viel zu tun war. Langsam geht es auf die Entlassung zu und es gibt wahnsinnig viel zu organisieren. Ich weiß gar nicht, wo mir momentan der Kopf steht. 

Ben macht kontinuierlich Fortschritte, und ich freue mich über jeden einzelnen. Trotzdem mache ich mir Sorgen, weil er nicht selbständiger werden will. Er will das tatsächlich nicht, es gibt jedes Mal Diskussionen, wenn er etwas selbst machen soll. Dann sagt er, dass er ohnehin für den Rest seines Lebens auf Hilfe angewiesen sein wird. Und er sagt das nicht frustriert, sondern so, als wäre es ganz normal. Dass es ein Unterschied ist, ob jemand bei manchen Tätigkeiten Hilfe braucht oder keine Minute allein gelassen werden kann, versteht er nicht. An diesem Punkt macht er einfach dicht.

Ich glaube, nach einem Jahr Krankenhaus kann er sich nicht mehr vorstellen, wie ein Leben ohne Pflegepersonal aussieht. Ich verstehe natürlich, dass alles für ihn viel schwerer ist als vorher. Aber er wäre viel weiter, wenn er einfach mal Sachen versuchen würde, statt immer um Hilfe zu bitten. Nicht, dass ich ihm nicht helfen wollte. Ich weiß nur nicht, wie ich das alles schaffen soll und ihn dazu bringen kann, sich mehr Freiheiten zurückzuerobern. Es geht dabei oft nur um Kleinigkeiten, z. B., sich selbst einen Snack aus dem Schrank zu holen. Aber gerade solche Kleinigkeiten bedeuten mehr Freiheit und körperlich wäre er dazu in der Lage. Vielleicht hängt es auch mit seiner Müdigkeit und Erschöpfung zusammen, dass er Anstrengungen meiden will. Auch das verstehe ich. Naja, zuhause werden uns erstmal einige Herausforderungen bevorstehen.

#24

Amsel

Main-Tauber-Kreis, Deutschland

Hallo Christine,

mein Mann möchte bis heute, fast 5 Jahre nach dem Schlaganfall, auch nicht selbständig werden. Außer dem was Fortbewegung , Körperpflege und An/Auskleiden betrifft. Wobei er auf lange Strecken gehen können auch keinen Wert legt und ohne mein penetrantes Intervenieren würde ich heute noch die Nägel der linken Hand kürzen und nicht er. Aber er kann das inzwischen - weil ich nicht kooperiert habe und grundsätzlich darauf bestand, dass er es selbst versucht. 

Mein Mann wäre auch deutlich weiter, wenn er wenigstens ansatzweise noch den Ehrgeiz, die Offenheit und die Neugierde hätte die ihn früher ausgezeichnet haben.

Ich habe anfangs den Fehler gemacht ihm zu viel abzunehmen. Ich kam mir auch regelmässig wie ein Schwein vor, wenn ich ihn sich abmühen lies. Im Rückblick kann ich nur sagen: hätte ich das nur grundsätzlich gemacht. Meine Fürsorge am Anfang bezahle ich jetzt damit, dass ich zu Hause einen Pascha sitzen habe dem ich das jetzt wieder mit (für mich) unschönen Maßnahmen abtrainieren muss. Ja muss, denn ganz ehrlich, mich macht es inzwischen aggressiv, dass mein Mann sich an den Esstisch setzt und wartet bis er bedient wird, denn er ist sowohl körperlich als auch geistig in der Lage den Tisch zu decken. 

Ich kann Dir nur raten es gar nicht erst soweit kommen zu lassen und gezielt Unterstützungen zu verweigern wenn Du denkst, dass er es auch alleine schaffen könnte. Gleichgültig wie gut das am Anfang laufen mag.... jeder Versuch lässt ihn besser werden.

Nehmen wir das Beispiel mit den Fingernägeln. Ich habe meinem Mann den Nagelclipser in die Hand gedrückt weil ich ihn damit dazu nötigen konnte seine Finger der rechten Hand einzusetzen. Ich habe ihm ein Handtuch auf den Tisch gelegt, den Clipser in die Hand gedrückt und gesagt: probier es aus. Es muss nicht glatt werden. Kürzen reicht aus. Ich glätte Dir danach die Unebenheiten. Er fand das gar nicht gut .. und was hat er gejammert, wie mies habe ich mich gefühlt und ja, die Nägel sahen anfangs angefressen aus ... aber heute braucht mein Mann diesbezüglich keine Unterstützung mehr und das obwohl die rechte Hand leider nach wie vor untrainiert ist weil er sie ausblendet (wenn er sich aber darauf konzentrieren würde, dann ginge da einiges mehr) - und stolz ist er heute inzwischen auch darauf, dass er es kann.

Im Moment bin ich beim Essen mit Messer und Gabel unkooperativ. Mein Mann übt das zu Hause nicht. Alles was nur irgendwie geht wird nur mit der linken Hand gegessen (er ist damit aber auch sehr geschickt). Früher habe ich ihm im Lokal das Fleisch oder die Pizza geschnitten, heute verweigere ich das und zucke auch nicht, wenn ihm dann irgendwann aufgrund nachlassender Kraft das Messer aus der Hand auf den Boden knallt. Die Blicke des Umfelds muss man halt aushalten. Mal schauen bis wann er verstanden hat, dass es hilft wenn man das täglich zu Hause umsetzt. Ich bin jedenfalls das Erinnern, das Mahnen, dass Anregen (notfalls im Sekundentakt) leid. 

Ich bedauere heute früher diesbezüglich nicht konsequenter und, ja, auch härter gewesen zu sein. Ich habe uns damit einen Bärendienst erwiesen. 

Vor 2 Wochen habe ich ihm die Aufgabe übergeben sein morgendliches Müsli selbst zu richten. Für ihn ist das eine kognitive Leistung weil er zählen und sich die Zutaten + die Mengen merken muss. (das ist kein Fertigmüsli) und Trockenfrüchte muss er auch noch schneiden 😛 ... und umrühren.. für ihn eine Herausforderung. Oh was hat er gejammert - ganz dramatisch. "Kann ich nicht" + "bitte nein". Ich habe ihn anfangs unterstützt, aber eines Morgens hat er mich damit überrascht, dass er bereits am Rühren war als ich die Küche betrat. Ja, heute ist er stolz darauf. 

Lange Rede, kurzer Sinn: ich rate zur Gnadenlosigkeit. Alles andere stehst Du auf Dauer zu Hause nicht durch. Es sei denn, Du kannst es Dir finanziell leisten Dienstleister an allen Ecken und Enden zu beauftragen. ich weiß wovon ich rede. Ich pflege seit 2020 alleine, habe ein Haus, bin berufstätig, hatte dazwischen auch noch eine pflegebedürftige Mutter zu unterstützen (nein, körperliche Pflege nicht) und jede Menge Ärger mit der Krankenkasse. Dazwischen gab es dann noch 2 ernste Erkrankungen meines Mannes oben drauf. Das ist kein Leben, man funktioniert nur noch. Und ich kann Dir sicher sagen, dass ich den Zustand der ersten Jahre auf Dauer nicht durchgehalten hätte. Inzwischen wird es bei uns ein klein wenig besser ... ich stehe aber dennoch nach wie vor gefühlt unter Dauerstrom.

Irgendwann habe ich meinem Mann ganz klar und deutlich gesagt: wenn Du Dich nicht am Alltag beteiligst und eigenständiger trainierst, dann bleibt mir leider keine andere Möglichkeit als Dich tagsüber von der Tagespflege betreuen zu lassen. Mir wir wird das sonst zu viel. Wir haben es früher immer so gehalten, dass jeder die Aufgaben übernimmt die er kann. Ich habe nicht vor bis zum Ende meiner oder Deiner Tage Deine Dienstmagd und Pflegerin zu spielen. Denn, sind wir mal realistisch.. es geht doch nicht nur um die Körperpflege, Du wirst den kompletten Haushalt erledigen müssen. Inkl. Papierkram, Arztbesuche, Therapiebegleitung und je nachdem bist Du auch noch Chauffeuse. Was bleibt denn da noch an Freizeit für Dich? Wo eine ruhige Minute? Wo Zeit für einen entspannten Abend?

Ich jedenfalls leben im Grunde das Leben von 2 Menschen ohne aber deren Freude zu haben. Versuche das noch in der Klinik anzugehen - oder siehst Du Dich in der Lage zu Hause das komplette Pflegepersonal rund um die Uhr ersetzen zu können?

Du fragst wie Du es schaffen kannst umzudenken. Nun.. bei meinem Mann helfen leider nur deutliche und energische Worte. Ich erkläre ihm die Konsequenzen.

Frag' Deinen Mann was er besser findet: Tagespflege oder an der Selbstständigkeit arbeiten damit er auch für ein paar Std. zu Hause alleine sein kann. Oder glaubt er ernsthaft, dass Du Dich 24 Std/Tag. bei ihm aufhalten kannst?

#25

Christine

Koblenz, Deutschland

Hallo Amsel,

vielen Dank für Deine Antwort, sie hat mir sehr weitergeholfen! Ich habe vieles wiedererkannt, was ich in den letzten Monaten erlebt habe. Vor allem bestärkt es mich darin, hart zu bleiben, bei Deinem Mann führt das ja auch zu Erfolgen. Gerade dieses "Kann ich nicht" – das habe ich schon so oft gehört. 

Es ist auch für mich ein schwieriger Lernprozess. Am Anfang dominierte bei mir das Gefühl, dass ich zu hart bin, wenn ich ihn sich abmühen lasse. Und es ist auch unglaublich schwer: Dann jammert er und macht ein schmerzverzerrtes Gesicht, wenn er etwas allein machen soll, und ich fühle mich schlecht. Aber man muss wohl durchhalten, so schwer es auch ist. Amsel, ich kann mir vorstellen, dass das auf die Dauer ziemlich zermürbend ist, und ich bewundere es, wie Du seit 5 Jahren diese Situation bewältigst. Vor diesem "Gesamtpaket" graut es mir schon ein bisschen. Wie Du sagst: Es ist nicht nur die Pflege, sondern auf einmal ist man allein für alles verantwortlich, für zwei Leben. Wir Angehörigen brauchen wirklich viel Kraft.

Liebe Grüße
Christine

#26

Amsel

Main-Tauber-Kreis, Deutschland

Hallo Christine,

es wird besser und leichter werden - auch wenn man sich das anfangs gar nicht vorstellen kann. Doch, das wird es sofern nicht weitere Erkrankungen dazu kommen und Du nicht davon ausgehst, dass Dein Mann noch der Gleiche ist wie vor dem Schlaganfall. 

Ich bin lange Zeit davon ausgegangen, dass mein Mann so reagieren und agieren wird wie ich ihn kannte. Es hat eine Weile gedauert bis ich eingesehen habe, dass ihm die Neugierde und das Durchhaltevermögen abhanden gekommen ist und einiges an sozialverträglichem Verhalten ebenfalls. Ich unterstelle ihm auch inzwischen, dass er für sich auch die Vorzüge des bedient werdens entdeckt hat. 

Das ist aber keine Basis für eine Ehe. Allenfalls für ein Pflegeverhältnis. Ergo beginne ich jetzt (viel zu spät) damit ihn die Konsequenzen seines Handelns spüren zu lassen. 

Beispiel: Er deckt nicht den Tisch, sondern setzt sich an den Tisch und wartet bis ich gekocht und gedeckt habe? => ich decke nur für mich und ich schöpfe auch nur für mich. Ich erkläre das aber auch mit den Worten: ich tue das, weil ich mich von Dir lieblos behandelt fühle. Ich habe eingekauft und gekocht und Du bist noch nicht einmal bereit die Aufgabe des Tisch deckens zu übernehmen. Das empfinde ich als lieblos und das macht mich traurig und wütend zugleich. Und deshalb versorge ich nur mich.

Zugegeben, ich komme mir dabei höchst albern vor, aber ich merke, dass in ihm etwas arbeitet und ab und zu denkt er inzwischen daran mit zu helfen. 

Ich sollte noch erwähnen, dass mein Mann eine globale Aphasie hat. D.h. Kommunikation ist eine Herausforderung und sie führt auch ab und zu zu Missverständnissen. Aber ich stelle fest, dass die Kombination "Handeln + Erklären" bei meinem Mann ein Nachdenken in Gang setzt. Und deshalb mache ich das weiter. Schaun mer mal wie weit ich komme.

Ich denke auch, dass ich mir einen Gefallen getan hätte, wenn ich in der Klinik bereits mehr gefordert hätte. Da wurde noch viel zu viel supportet. Klar, irgendwann ist das dann ein Normalzustand und wird auch weiterhin als selbstverständlich voraus gesetzt.

Ein weiteres Beispiel:

Als mein Mann von der Reha nach Hause kam hatten wir Besuch. Damals lief er noch relativ unsicher und vor allem hatte er eine ausgeprägte Fußhebeschwäche weshalb er gerne mal stolperte. Dennoch hat er seinen Gast mit Getränken aus dem Kühlschrank versorgt ohne dass ich dazu aufgefordert hätte und ohne dass ich das erwartet hätte.

2 Jahre später hatten wir wieder Besuch. Wir saßen zu viert am Esstisch. Auf einmal gab mir mein Mann (er saß mir vis a vis) mit den Augen und Kopf wilde Zeichen in Richtung seines Sohnes. Es hat eine Weile gedauert bis ich verstand, dass er mir klar machen wollte: Sohn hat ein leeres Glas, fülle mal nach.

Ich war erst einmal sprach- und fassungslos - und dann empört. Ich hatte eingekauft, gekocht, gedeckt und das Gästezimmer gerichtet - mein Mann hatte zugeschaut .. dabei war er zu diesem Zeitpunkt schon sehr viel sicherer auf den Beinen (er ist ohne Rollator unterwegs) als kurz nach der Reha. Und da erwartet er von mir, dass ich aufstehe und die Gäste mit Getränken die im Kühlschrank stehen versorge? Ja hallo!

Mir ist dann ganz spontan, vor den Gästen, entfleucht: ich glaube Dir geht's zu gut. Die Beiden sind auch Deine Gäste. Steh' mal auf und mach' das selbst. (ich hätte früher nie im Leben so mit meinem Mann gesprochen - das war auch nie notwendig)

Klar, für die Gäste war das vermutlich peinlich, aber DAS war irgendwie der Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte. Seitdem achte ich mehr darauf, dass nicht nur ich springe (aber immer noch zu wenig).

 

Da bleibt doch die Frage: was hat sich in diesen 2 Jahren geändert?

Ich habe die Theorie: mein Mann hat sich einfach daran gewöhnt, dass jeder der mit ihm zu tun hat ihm etwas abnimmt. 

Nun, man kann auch wieder entwöhnen - und Dir kann ich nur raten: fang erst gar nicht damit an. Du bist nicht lieblos wenn Du nicht bei jedem Problem springst. Im Gegenteil. Dieses Gejammere und Klagen auszuhalten ist viel härter und schwerer als die Handgriffe die notwendig sind zu tun.

Du tust es für euch beide und für eure Beziehung.

Mein Mann ist übrigens für Bewunderung sehr empfänglich 😉

#27

Annin

Bayern, Deutschland

Ja! Loben, loben, loben!

Danke für eure interessanten Einblicke! Ich kenne es auch, dass man eigentlich die beeinträchtigte Person machen lassen möchte. Aber wenn die Schuhe dann nach 5 Minuten noch nicht gebunden sind oder der Kraftaufwand so hoch ist, dass man nicht weiß, ob die Energie für den Spaziergang noch reichen wird, dann macht "man das eben doch ganz schnell und hilft mal eben". 

Wie ihr sagt: es ist manchmal mehr Mühe notwendig, nicht alles zu machen. 
Und die Freude über das selbstgemachte Müsli gibt der Strategie absolut recht.

 

Allen weiterhin gute Erziehungsarbeit!

#28

Christine

Koblenz, Deutschland

Hallo Amsel,

im Moment kann ich mir tatsächlich kaum vorstellen, dass es jemals besser wird. Ich weiß, ein Jahr ist für einen schweren Schlaganfall keine lange Zeit. Aber ich bin mitten in der Trauerbewältigung, weil ich lernen muss zu akzeptieren, dass der alte Ben nicht mehr da ist. Ja, er spricht, das ist ein großes Glück, er ist geistig präsent. Aber gerade die Eigenschaften, die ich an ihm geliebt habe, sind verschwunden: Er war ein energiegeladener, entscheidungsfreudiger, einfühlsamer, disziplinierter und aktiver Mann, der immer viele Ideen hatte, Dinge in die Hand genommen hat und sich nie entmutigen ließ. Und nun jammert und meckert er den ganzen Tag und will am liebsten rund um die Uhr bedient werden. Einen besonderen Stich versetzt es mir, wenn ich sehe, wie andere Patienten in der Reha an ihm vorbeiziehen, sich aus dem Rollstuhl hochkämpfen und sich Stück für Stück ihre Autonomie zurückerobern. Er könnte das auch, wenn er wollte, er kann mittlerweile gut und sicher mit dem Vierpunktstock gehen. Aber er käme nie auf die Idee, mal von allein aus dem Rollstuhl aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. 

Ach, heute bin ich ganz besonders frustriert. Ich habe ihm einen Greifer mitgebracht, damit er Sachen aufheben kann, die ihm auf den Boden gefallen sind und die er dann vom Rollstuhl aus nicht erreicht. Statt sich das wenigstens mal anzuschauen oder auszuprobieren, hat er nur gemeckert, dass er einen halben Tag brauchen würde, um zu verstehen, wie der Greifer funktioniert. Was natürlich Quatsch ist, aber er will sich nicht anstrengen. Im nächsten Moment hat er dann eingefordert, dass ich ihm eine neue Wasserflasche hole, weil "das doch nett von mir wäre". Und wenn ich ihm nicht helfe, kommen Vorwürfe oder zynische Bemerkungen. Das ist alles schwer auszuhalten. Jetzt sitze ich frustriert zuhause und denke, das wird nichts mehr. 

Er hat natürlich ein hartes Schicksal zu tragen, und deshalb habe ich ihn wohl oft zu vorsichtig und rücksichtsvoll behandelt. Ich habe noch kein Gespür dafür, was ich ihm zumuten kann, aber so geht es nicht weiter. Vielleicht versuche ich es mal mit Deinen Methoden, "Handeln und Erklären", und spiegele ihm auch stärker wider, wie ich mich fühle. Vielleicht löst es einen Lerneffekt aus. Mir kam gerade der Gedanke, dass ich ihm morgen mal eine klare Ansage machen sollte. Ich finde es toll, dass Du Deinem Mann inzwischen so deutlich Grenzen setzt und mehr von ihm verlangst. Zu diesem Punkt muss ich noch kommen.

Liebe Grüße
Christine

#29

Etcetera

Basel, Schweiz

Guten Morgen allerseits

Generell verstehe ich die Probleme wie auch die Lösungsansätze.

Nicht zu unterschätzen sind die potentiellen Probleme mit der Motivation und und der Erschöpfung. Manchmal geht es einfach nicht oder es ist der falsche Moment oder der Patient/Partner braucht lange, um sich mit einer Aufgabe zu befassen (ausserhalb der "Bequemlichkeit"/Depression und so weiter).

Als Motivationshilfe halte ich die Einführung von Ritualen und Ämtchen für hilfreich, die dann auch möglichst konsequent zelebriert werden "müssen". Routinen helfen den "schwierigen Moment des Anpackens" zu überwinden.


Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal bearbeitet, zuletzt von »Etcetera« (24.04.2024, 09:26)
#30

Christine

Koblenz, Deutschland

Guten Morgen allerseits

Generell verstehe ich die Probleme wie auch die Lösungsansätze.

Nicht zu unterschätzen sind die potentiellen Probleme mit der Motivation und und der Erschöpfung. Manchmal geht es einfach nicht oder es ist der falsche Moment oder der Patient/Partner braucht lange, um sich mit einer Aufgabe zu befassen (ausserhalb der "Bequemlichkeit"/Depression und so weiter).

Als Motivationshilfe halte ich die Einführung von Ritualen und Ämtchen für hilfreich, die dann auch möglichst konsequent zelebriert werden "müssen". Routinen helfen den "schwierigen Moment des Anpackens" zu überwinden.

 Hallo Etcetera,

danke für diesen Impuls! Rituale, Routinen bzw. Gewohnheiten laufen ja nach einer Phase des Einüben automatisch ab, ohne dass man darüber nachdenkt oder es jedes Mal hinterfragt. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz. Ich habe selbst einige Rituale, die mir helfen, strukturiert meine täglichen Aufgaben zu erledigen. Ich hoffe, dass Ben einige Tätigkeiten irgendwann wieder in Fleisch und Blut übergehen. Also zum Beispiel, dass er sich seine Mineralwasserflasche gleich nimmt oder allein auf die Toilette fährt, ohne auszutesten, ob ich ihm helfe. Denn dieses ständige Tauziehen ist belastend, gerade wenn man als Angehöriger sowieso schon am Limit ist. Ich hoffe auch, dass er zuhause besser versteht, warum es wichtig ist, dass er eine Zeitlang allein zurechtkommt. Mein Eindruck ist, dass es nach einem Jahr Krankenhaus außerhalb seiner Vorstellungswelt liegt, wieder zuhause zu sein, wo es nicht rund um die Uhr Pflegepersonal gibt. Naja, im besten Fall wachsen wir da hinein. Ich würde aber wesentlich ruhiger schlafen, wenn ich wüsste, dass ich ihn auch mal eine Stunde allein lassen kann.

Liebe Grüße
Christine

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